„Kultur in Bewegung: Meran 1965-1990“
Im Rückspiegel der Geschichte betrachtet, ist Meran in den Jahren zwischen 1965 und 1990 in vielfacher Hinsicht ein überaus bedeutendes kulturelles Zentrum mitten in Europa. Diese Behauptung ist keineswegs überheblich, sondern Ergebnis einer Vielzahl von Erkenntnissen nach einer mehrjährigen Recherche über 25 Jahre politisches, kulturelles und gesellschaftliches Leben in der kleinen zweisprachigen Stadt an der Passer.
In der demnächst erscheinenden Publikation mit 36 Aufsätzen und anhand von rund 700 – zu einem großen Teil bisher nicht publizierten – Abbildungen machen die Autor*innen von „Kultur in Bewegung: Meran 1965-1990“ – allen voran Prof. Markus Neuwirth – deutlich, wie viele internationale und lokale Fäden kulturellen Geschehens hier zusammenlaufen.
Viele Künstler*innen, Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Kreative verdichten in Publikationen, Aufzeichnungen, Kunstwerken, Aktionen oder Performances internationale Geschehnisse und Tendenzen. Vilém Flusser, Ernst von Glasersfeld, Valentin von Braitenberg, Regina Klaber Thusek, um nur einige zu nennen, sind „europäische Nomad*innen“ und treten in ihren Meraner Jahren mit einer Vielzahl von Einheimischen in einen regen intellektuellen, produktiven und kreativen Dialog. Über Jahrzehnte sind Veröffentlichungen, Vorträge, Ausstellungen und Korrespondenzen, ebenso wie die anhaltende Teilnahme am internationalen Kunstdiskurs, Beleg für wegweisende Meilensteine in Richtung einer Internationalisierung der Stadt. Speziell Ernst von Glasersfeld und Valentin von Braitenberg sind im Bereich der kognitiven Psychologie, der Kybernetik, des Konstruktivismus und der Informationstheorie international führende Wissenschaftler. Vilém Flusser gilt als einer der einflussreichsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, sein dreijähriger Aufenthalt in Meran in den 1970er Jahren findet in den späteren Schriften eindeutigen Niederschlag.
Die rund 600-seitige Publikation mit den Abhandlungen von 25 Expert*innen kann in einer Pressemitteilung nicht zusammengefasst werden. Nur die aufmerksame Lektüre und das Querlesen zwischen den verschiedenen Aufsätzen machen die eingangs formulierte Behauptung nachvollziehbar und belegen die Strahlkraft des Meraner Kulturgeschehens und Kunstschaffens für das lokale wie überregionale Umfeld. Die Verbindungen zu internationalen Wirkungskreisen, die im Zuge der Recherche nachvollzogen wurden, reichen weit über die renommierten Universitätsstädte Wien oder München hinaus. London, Prag, Mailand, Sao Paolo, die Provence, Australien, die Vereinigten Staaten und viele andere Orte belegen ein Kommen, Gehen und Verweilen einer vom Zweiten Weltkrieg versprengten Generation.
Sowohl Buch als auch Ausstellung erzählen von Intellektuellen und Künstler*innen mit großer Sensibilität. Von einer Künstlergeneration, die durch Nationalsozialismus und Faschismus um ihre Jugend und Chancen gebracht worden war. Peter Fellin, Hansgeorg Hölzl, Franz Pichler oder Jakob de Chirico erleben die schwierigen Jahre nach dem Krieg zwischen Rückzug und Offensive. Beseelt vom Wunsch des Offenlegens und der Manifestation ihrer künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen, bleiben ihnen Ablehnung, Schikanen, Anzeigen und Verhaftungen mitunter nicht erspart.
Erst in den 1980er-Jahren liegen diese Geschehnisse weit genug zurück, um auch weniger politischen Positionen Raum geben zu können. Die Kunst kann sich wieder verstärkt kunstimmanenten Fragestellungen widmen.
Die Fotografie nimmt in diesem ganzen Geschehen eine bedeutende Rolle ein. Sie ist inzwischen nicht nur eine anerkannte künstlerische Disziplin, sondern auch ein überaus bedeutendes Dokumentationsmedium. Der Nachlass des Fotografen und Journalisten Gigi Bortoli, der Vorlass des begabten und engagierten Hobbyfotografen Walter Haller und die feine Sensibilität der Meraner Fotokünstlerin Elisabeth Hölzl haben eine Vielzahl von Ereignissen und Stimmungen festgehalten. Sie bereichern die Aufsätze und die Ausstellung sehr.
Als künstlerisches Kondensat wird ab 2. März 2021 die gleichnamige Ausstellung „Kultur in Bewegung: Meran 1965-1990“ anhand von rund 100 signifikanten Werken Einblick in die Kunst jener Jahre gewähren. Während das Buch einen breiten kulturhistorischen Ansatz verfolgt, konzentriert sich die Ausstellung auf Kunstwerke und lässt diese in einen neuen, bisweilen unerwarteten Dialog miteinander treten. Zwischen Fluxus, Performance, Assemblage, Aktionskunst, mail art, abstrakter Malerei, Zeichnung, Schmuckkunst und Fotografie ist das künstlerische Panorama sehr breit. Eine internationale Ausbildung und erste Ausstellungserfahrungen fernab von Südtirol binden eine Reihe jüngerer Künstler*innen in das internationale Geschehen ein. Mit Rudolf Stingel wächst in Meran nach seiner Ausbildung an der Kunstschule in Gröden, einer der gegenwärtig führenden internationalen Kunstschaffenden heran. Die Verlinkung mit Meran und Südtirol bleibt in seinem ganzen Werk punktuell erhalten.
Liste der Aufsätze und Autoren:
Hans Heiss
Südtirol. Meran 1965 bis 1990: Hunger nach Modernität, Suche nach Sicherheit
Markus Neuwirth
Meran 1965–1990. Generationenwechsel und Netzwerke
Stefan Graf
Architektur und Städtebau in Meran
Ewald Kontschieder
Neue Vielfalt und freie Szene
Siegfried de Rachewiltz
Auf der Brunnenburg (1965 – 1990)
Anna Zinelli
La Livre. An Homage to Ezra Pound von Francesco Conz
Ferruccio Delle Cave
Neuorientierung und Aufbruch: Literatur in Südtirol zwischen 1960 und 1990
Rainer Guldin
Zwischen Berg und Ebene: Zur Entstehung von Vilém Flussers Begriffspaar Dialog/Diskurs
Irina Ladurner
Merans Protagonisten: Film ab für Jori, Fassbinder und Co.
Franco Bernard
Was für ein Theater?! Eine Bestandsaufnahme
Ursula Schnitzer
Gina Klaber Thusek – Keys to nowhere
Andreas Hapkemeyer
Ello lächelt
Rosanna Pruccoli
Die Korrespondenz von Antonio Manfredi
Andreas Hapkemeyer
Peter Fellin 1965–99
Markus Neuwirth
Hansgeorg Hölzl. Kunst als Erweckung einer neuen Natur
Markus Neuwirth / Ursula Schnitzer
Schmuck und Kleinodien. Preziosen aus Meran 1965–1990
Markus Neuwirth
Oswald Oberhuber. Bildhunger und konstruktiver Gedanke
Markus Neuwirth
Luis Stefan Stecher. Doppelbegabung in Wort und Bild
Sabine Gamper
Franz Pichler
Markus Neuwirth
Jakob de Chirico. Protest, Revolte und Aktion
Markus Neuwirth
„Schönweger ist nicht gleich Schönweger“.
Sigurd Scheichl
Matthias Schönweger
Marion Piffer Damiani
Rudolf Stingel: „Instructions“
Markus Neuwirth
Ivo Mahlknecht. Zwischen gegenstandsloser Monochromie und Figuration
Carlo Girardello
Ivo Mahlknecht. Ein monochromer aktueller Maler
Marion Piffer Damiani
1980 – 1990 Zwischen Frühwerk und Programm
Leo Andergassen
Der Kleine Kunstpalast.
Markus Neuwirth, Andreas Ortner, Peter Duschek, Ronald Ortner
Evelyn Ortner.
Mauro Sperandio
Kunstausstellungen im Kurhaus Meran: die Ära Maviglia
Inga Hosp
Drei Meraner bei den Bozner Treffen 1990 – 2005:
Barbara Unterthurner
Unterm Strich – Kulturjournalismus in Südtirol 1965 bis 1990
Tiziano Rosani
Neue Horizonte für die Stadtbibliothek Meran
Patrick Gasser
Urlaub „bei Meran“ mit Blick auf den Kurort
Mauro Sperandio
Internationale Sportveranstaltungen in Meran von 1965 bis 1990
Hans H. Reimer
Kunst in der Evangelischen Gemeinde A. B. Meran
Joachim Innerhofer
Meraner Juden zwischen Hoffen und Bangen
Leo Andergassen
Versus populum.
Liste der Künstler in der Ausstellung:
Barbara Bertagnolli, Christoph Blum, Henri Chopin, Arnold M. Dall’O, Jakob de Chirico, Walter Erckert, Ulrich Egger, Peter Fellin, Anton Frühauf, Eduard Habicher , Toni Hanny, Siegfried Höllrigl, Elisabeth Hölzl , Hansgeorg Hölzl, Georg Jappe, Marcello Jori, Margit Klammer, Milan Knizak, Linda Ladurner, Konrad Laimer, Peter Lloyd, Ivo Mahlknecht, Antonio Manfredi, Manfred Alois Mayr, Vito Mazzotta, Carmen Müller, Hermann Nitsch, Oswald Oberhuber, Franz Pichler , Rafael Montanez Ortíz, Elisabeth Oberrauch,, Alessandra Pucci, Rina Riva, Mili Schmalzl, Matthias Schönweger, Luis Stefan Stecher, Rudolf Stingel, Paul Thuile, Regina Klaber Thusek, Hans Tischler, Peppi Tischler, Karl Vonmetz, Willy Wiemann
Kurator*innen: Markus Neuwirth, Ursula Schnitzer